Die Fabeln La Fontaines

Thomas Hilberer



"Lustige Schwatzhaftigkeit" wirft Lessing in seinen Abhandlungen über die Fabel (1759) La Fontaine vor, ein Zuviel an "Zieraten", und tatsächlich zeichnen sich die Fabeln dieses Klassikers der französischen Literatur durch Humor und Anschaulichkeit aus. Wir sehen die junge Bäuerin Perrette, in Das Milchmädchen und der Milchtopf, wie sie hochgeschürzt und leichtfüßig in die Stadt eilt, den Milchtopf auf dem Kopf balancierend und von einem Leben als große Dame in Reichtum träumend. Die Milch wird sie für Eier eintauschen, die daraus geschlüpften Kücken großziehen und dafür ein Schwein erstehen, dieses mästen und für Kuh und Kalb verkaufen. Und schon sieht sie das Kalb springen und außer sich vor Glück und Freude hüpft sie mit und der Krug fällt und zerbricht. Wir lachen über ihre Naivität, die sie Traum und Wirklichkeit verwechseln läßt - am Ende hat sie die Grundlage ihres vermeintlichen Vermögens verschüttet und muß vor den Schlägen ihres Gatten bangen.

Aber nun, unvermutet, meldet sich der Erzähler zu Wort und verteidigt sein Geschöpf: "Jeder Mensch träumt, die Weisen ebenso wie die Verrückten, es gibt nichts Schöneres auf der Welt". So erscheint unser Milchmädchen aus anderem Blickpunkt und der Sinn der kleinen Erzählung hat seine Eindeutigkeit verloren. Tatsächlich zeichnen sich viele Fabeln La Fontaines durch ihre Ambiguität oder Mehrdeutigkeit aus, und dies stellt ein Merkmal literarischer Qualität dar. Hat die Grille recht getan, den ganzen Sommer jedem der es hören wollte (oder vielleicht auch nicht?) ihr Liedchen zu singen? Ist die Ameise auf brutale Weise geizig oder einfach nur vernünftig? Sicherlich läßt die Grille sich als Bild des Künstlers lesen, aber auch als Beispiel einer verträumten Unbedingtheit, die letztlich mit dem Tod enden kann.

Diese Offenheit des Sinns bedeutet auch Verzicht auf moralische Belehrung. Der erhobene Zeigefinger, den wir bei engagierten Autoren aller Couleur erdulden müssen, fehlt hier völlig. Die Fabelwelt des Jean de La Fontaine zeichnet sich hingegen durch unbedingte Freiheitsliebe aus, gegen alle politischen wie moralischen Autoritäten. "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" - Kants berühmte Aufforderung könnte hier als Motto dienen.

So bietet die Lektüre dieser Texte jederzeit anregendes Vergnügen, und so sind diese wunderbaren Fabeln als klassisch im besten Sinne des Wortes zu bewerten, von zeitloser Gültigkeit, ästhetischer Perfektion und einem Potential an Fragen, die sich dem Leser immer wieder neu stellen. Viel gelesen und unvergeßlich: ganz im Gegensatz zu denen des eingangs zitierten Griesgrams - oder kennen Sie eine Fabel Lessings?



Text für das Programmheft des Konzerts
Ulrike Kristina Härter (Sopran), Jean-Christophe Schwerteck (Liedbegleitung), Sachi Nagaki (Klavier solo):
Die Fabelwelt des Jean de La Fontaine - Vertonungen von Lecocq, Offenbach, Caplet, Gounod, Godard und Poulenc
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21. Januar 2024, Tübingen, Pfleghof



© Thomas Hilberer
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17. Mai 2024